Die Deutsche Reichsbahn deportierte im Auftrag der Nationalsozialisten zahllose Menschen. Der Genozid an Sinti*zzi und Rom*nja wurde jahrzehntelang nicht offiziell anerkannt. Nun ist das erst acht Jahre junge Denkmal für die ermordeten Sinti*zzi und Rom*nja Europas in Berlin, für das sehr lange gekämpft wurde, ausgerechnet von einem Bauvorhaben der Deutschen Bahn bedroht. Am 13. Juni 2020 findet eine Protestaktion gegen dieses Vorhaben statt.
Das Gedicht "Auschwitz" von Santino Spinelli ist nachzulesen am Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas, Simsonweg, Berlin.
„Sonderzüge in den Tod. Die Deportationen durch die Deutsche Reichsbahn“ ist der Titel der Ausstellung, die die Deutsche Bahn seit 2008 als Wanderausstellung zeigt. „Zu der Ausstellung ist eine ausführliche Dokumentation erschienen“, heißt es auf der dazugehörigen Internetseite DB Museum.
„Im Auftrag der Nationalsozialisten deportierte die Deutsche Reichsbahn zahllose Menschen. Sie war damit unmittelbar am Holocaust beteiligt. Ohne den Einsatz der Eisenbahn wäre der systematische Mord an den europäischen Juden, Sinti und Roma nicht möglich gewesen. Heute schätzt man, dass etwa drei Millionen Menschen mit Zügen in die nationalsozialistischen Vernichtungsstätten transportiert wurden.“ Die Deutsche Reichsbahn verdiente an den Fahrten dieser „Sonderzüge“ sehr viel Geld.
„Die Deportationen erfolgten mit Sonderzügen und mit Waggons, die zum Teil auch an Züge des regulären Personenverkehrs angehängt werden konnten, je nach Umfang der zu verfrachtenden Menschen. Die Reichsbahn legte den üblichen Fahrtarif von vier Reichspfennig pro Person und Schienenkilometer zugrunde, für Kinder wurde ein verbilligter Fahrpreis in Rechnung gestellt. Bei der Belegung eines Zuges mit mindestens 400 Menschen galt ein "Rabatt" von 50 Prozent. Die Kosten für den jeweiligen Transport trug zwar das RSHA [Sicherheitspolizei und Sicherheitsdienst der SS, Anm. der Autorin], doch dieses griff auf Gelder zurück, die ursprünglich aus den konfiszierten Mitteln der Deportierten stammten. Es war ein rentables Geschäft für die Deutsche Reichsbahn, da Juden, [Sinti*zzi und Rom*nja, Anm. der Autorin] aus ganz Europa verschleppt wurden, die weite Fahrtwege zurücklegen mussten. 560 Kilometer Entfernung liegen zwischen Auschwitz und Berlin, etwa 1.000 Kilometer zwischen Auschwitz und Frankfurt am Main. Zudem waren die Züge völlig überfüllt, 1.000 bis 2.000 Menschen wurden in den Waggons während eines einzigen Transports zusammengepfercht.“ (siehe „Die Deutsche Reichsbahn und der Holocaust“).
In der ehemaligen DDR blieb die Bezeichnung Deutsche Reichsbahn bestehen, in der BRD ging sie in die Deutsche Bahn über.
Es dauerte fast 40 Jahre bis der Genozid an den ermordeten Sinti*zzi und Rom*nja Europas 1982 von der Bundesrepublik Deutschland anerkannt wurde. Bis zur Errichtung des Denkmals in Berlin verging eine weitere lange Zeit der Widerstände. Es dauerte 20 Jahre bis das Denkmal errichtet werden konnte.
Die große Verblüffung, die seit Jahren anhält
Heute, in 2020, steht die Existenz und Würde des Denkmals in Frage. Die Deutsche Bahn, das Land Berlin und der Deutsche Bundestag planen eine Erweiterung der Berliner S-Bahn-Strecke. Die Deutsche Bahn nennt dieses Bauvorhaben „eines der wichtigsten Zukunftsprojekte“ für Berlin.
Es wird über eine temporäre oder partielle Schließung des Denkmals gesprochen. Bedeutet dies dann auch eine Unterbrechung des Gedenkens? Vor dem Hintergrund der Geschichte der deutschen Reichsbahn und heutigen Deutschen Bahn wird die Pietätlosigkeit dieser Situation offen dargelegt und sichtbar.
Bei den ersten Gesprächen um diese Baumaßnahmen, die drohen das Denkmal zu (zer-) stören, war der Deutschen Bahn nicht bewusst, dass eine Sperrung oder teilweise Schließung des Denkmals problematisch sein könnte. Stattdessen zeigte man sich „völlig verblüfft“.
Diese Verblüffung ist mir sehr wohl bekannt. Ich kenne sie aus meiner Arbeit als Workshopleiterin in der politischen Jugendbildung. Wenn ich mit Gruppen von jungen Menschen arbeiten darf, die gerade die Schule beendet haben oder sich in der Abschlussphase ihrer Schullaufbahn befinden frage ich regelmäßig in die Runde wer der Teilnehmenden während der Schulzeit zum Thema Rassismus gegen Sinti*zzi und Rom*nja gearbeitet hat. Meistens sind in der Gruppe 30-35 Teilnehmende. Ich stelle die Frage jedes Mal. Jedes Mal bekomme ich dieselbe Antwort. Jedes Mal. Keine Person meldet sich.
Die Teilnehmenden berichten mir regelmäßig, dass in ihrem Schulunterricht höchstens in einem Nebensatz kurz erwähnt wurde, dass Sinti*zzi und Rom*nja auch Opfer des Holocausts waren. Mehr nicht!
Die Schüler*innen sind oftmals verblüfft, dass ihnen dieser Teil der Deutschen Geschichte, nämlich die Geschichte der Sinti*zzi und Rom*nja, vorenthalten wurde. Sehr ähnlich sieht es mit dem Weglassen Schwarzer Deutscher Geschichte in der deutschen Geschichtsschreibung und somit auch im Schulunterricht aus.
Dieses Jahr werden, nicht nur bedingt durch die Veranstaltungsabsagen aufgrund der Pandemie, sondern ganz allgemein viel weniger dieser Seminare für junge Teilnehmende zum Thema Rassismus gegen Sinti*zzi und Rom*nja stattfinden und das nicht etwa, weil der Geschichtsunterricht in den Schulen endlich vervollständigt wurde, sondern weil das Projekt nun nicht mehr vom Bund gefördert wird.
Verblüfft sind Menschen auch heute noch oft, wenn sich Sinti*zzi oder Rom*nja nicht mit dem rassistischen Begriff für Rom*nja und Sinti*zzi bezeichnen lassen möchten. Einige sind sogar verblüfft darüber, dass der rassistische Begriff ein solcher sein soll. Sie möchten ihn gerne beibehalten aus Tradition, Gewohnheit und vor allem zur Erhaltung der nationalen und globalen rassistischen Strukturen. Wenn Menschen hören, dass den zu Häftlingen gemachten Menschen in den Konzentrationslagern damals ein „Z“ und die Häftlingsnummer in den Unterarm eintätowiert wurde, sind sie meist geschockt und auch verblüfft.
Der lange Kampf um die Erinnerung
Dank der Bürger*innenrechtsbewegung der Sinti*zzi und Rom*nja seit den 1980er Jahren wissen wir alle heute um die Geschichte der NS-Zeit und was dies für unsere Community bedeutet. Die Holocaust-Überlebenden selbst mussten erst gemeinsam mit der zweiten Generation aktiv werden, Hungerstreiks in ehemaligen Konzentrationslagern durchführen, und auf deutschem Boden demonstrieren, um überhaupt eine Anerkennung des Genozids an Sinti und Roma in Deutschland zu erreichen. Ihnen verdanken wir die Aufarbeitung dieser Geschichte und die Möglichkeit einer Erinnerungskultur und einem angemessenen Gedenken.
20 Jahre dauerte es bis das Denkmal der ermordeten Sinti und Roma Europas nach einer langen Zeit der Widerstände errichtet werden konnte. Heute ist das Denkmal nur acht Jahre jung und die zweite und dritte Generation der NS-Überlenden muss sich wieder auf eine Demonstration vorbereiten, dieses Mal, um das Mahnmal zu schützen.
Der See des Denkmals wird von dem Gedicht „Auschwitz“ von Santino Spinelli eingerahmt.
Rassismus ist ein strukturelles globales Problem
Wenige Kilometer vom Denkmal der ermordeten Sinti und Roma entfernt, fand am letzten Wochenende die Demonstration der Black Lives Matter Bewegung mit einer sehr großen Anzahl von Unterstützenden statt. Nach einer Reihe von groben rassistischen Vorfällen innerhalb weniger Tage in den USA wurde George Floyd von einem weißen Polizisten umgebracht. Eine Passantin filmte die grausame Tat mit ihrem Handy und somit wurde das Problem der rassistischen Polizeigewalt durch das Internet für die ganze Welt sichtbar. Auf sämtlichen Smartphones und Laptops schauten sich Menschen das erschütternde Video an.
Für viele Schwarze Menschen in Deutschland, wie auch für mich als Afro-Sintezza, ist das Video und der Mord an George Floyd zutiefst verletzend. Der Schmerz reiht sich ein in eine kollektive Erfahrung und es bleibt eine Mischung aus Wut, Trauer und Schmerz. Alle Blicke sind nun auf die USA gerichtet, denn dort scheint die rassistische Polizeigewalt zu herrschen. Schwarze Menschen in Deutschland wissen aber sehr wohl, dass dies kein amerikanisches Problem ist. Denn Rassismus ist ein strukturelles, globales Problem. Der grausame Tod von George Floyd hat uns an all unsere heimischen Wunden erinnert.
Unter rassistischer Polizeigewalt starben in Deutschland seit der Wiedervereinigung sehr viele, zu viele, Menschen:
Oury Jalloh
Christy Schwundeck
Alberto Adriano
Achidi John
Laye-Alama Condé
Robble Warsame
und leider noch viele weitere.
„I can't breathe“ war einer der letzten Sätze George Floyds.
„I can't breathe!“ - Ich kann nicht atmen - Kek Ducho.